Liebe Leute. Also, da haben wir’s: ‚Duchamp, Gabel und Rad auf Hocker‘. Klingt erstmal wie der Titel eines absurden Theaterstücks, nicht wahr? Duchamp, dieser alte Schelm, hat uns hier ein Rätsel hinterlassen. Eine Gabel und ein Rad, die sich auf einem Hocker räkeln, als wären sie nach einer durchzechten Nacht dort gelandet. Es ist, als hätte jemand versucht, das ultimative IKEA-Möbelstück zu kreieren, aber dann bei Seite 2 der Anleitung aufgegeben.
Aber nein, das ist hohe Kunst, meine Damen und Herren! Neu und maximal innovativ im Jahre 1913.
Es wird noch besser! Was wir hier im Museum Ludwig sehen, ist nicht einmal das Original. Es ist eine Reproduktion. Ja, Ihr habt richtig gehört. Die Aura des echten Kunstwerks? Fehlanzeige. – Mir fehlt die Patina.
Das Original dieses Meisterwerks landete auf dem Müll. Aber keine Sorge, das Kunstwerk wurde rekonstruiert, und zwar mehrfach. Unter anderem steht hier im Ludwig eine Kopie. Doch die älteste noch erhaltene Kopie chillt im Museum of Modern Art in New York.
„Das Fahrradrad ist mein erstes Readymade, und zwar so sehr, dass ich es zunächst nicht einmal als ‚Readymade‘ bezeichnet habe. Es hatte noch wenig mit der Idee des Readymade zu tun.“ MD
Patina – das ist so ein Ding, oder? Für mich ist ein Fahrrad aus dem Jahr 1913 ohne Kratzer, abgeblätterte Farbe und Rost so authentisch wie ein Tofu-Schnitzel in einer bayrischen Wirtschaft. Vor über zwei Jahrzehnten war ich in Südfrankreich unterwegs. Stellt euch vor: Ein Bauerhof und ein Gästezimmer, das so groß war wie die Abstellkammer meiner Oma und dann dieses Regal. Zusammengezimmert aus alten Holzgarnrollen und ein paar Brettern, die jemand in einem Anfall von künstlerischer Freiheit schnell weiß angepinselt hatte. Darauf ein Stapel leichte französische Literatur.
Ich dachte, ich hätte ihn gefunden. Einen echten Duchamp! Vielleicht sein allererstes Readymade. Ich sah mich schon in den Kunstnachrichten. „Oh, das hat meine Tochter in den 70ern gebastelt.“‚ so die Dame des Hauses. „Das Ding ist so viel wert war wie ein Baguette von gestern.“
Ich stelle gerade mir vor, wie Duchamp in seinem Atelier sitzt, das Rad ansieht und denkt: ‚Ja, das ist es!‘. Ein bisschen wie wenn man nach einem langen Tag nach Hause kommt und sich eine Trash-TV-Show ansieht – man weiß, es ist nicht hochkulturell, aber es beruhigt irgendwie.
Duchamp hat mit diesem Werk die Kunstwelt revolutioniert.
Euer Lu
Hintergrund (Wikipedia):
Das erste Fahrrad-Rad fertigte Duchamp 1913. Im selben Jahr entstanden erste Skizzen zu Readymades, wie Le Grand Verre, dem Großen Glas; zum Erratum Musical, dem ersten musikalischen Readymade, sowie zu Broyeuse de chocolat no 1, der Schokoladen-Mühle Nr. 1. Das erste Roue de Bicyclette ging vermutlich mit Beginn des Ersten Weltkrieges und Duchamps Umzug nach New York verloren. Der einzige Nachweis des Original-Rads ist eine Fotografie von Duchamps Atelier in Paris aus dem Entstehungsjahr.
Dort steht das Hockerrad neben weiteren Objekten. Der Duchamp-Biograf Calvin Tomkins indes meint, Duchamps Schwester Suzanne habe es als „nutzlosen Krempel“ erachtet und einfach auf den Müll geworfen, was Duchamp wiederum auf die Idee brachte, die Readymades nur in limitierter Zahl zu produzieren, da „der Geschmack der größte Feind der Kunst sei.“ Tatsächlich schuf Marcel Duchamp insgesamt nur etwa zwanzig Readymades.
Marcel Duchamp – Biografie, Leben und Werk. In: Calvin Tomkins: Ein Leben zwischen Eros, Schach und Kunst. cosmopolis.ch, abgerufen am 3. April 2009.