LU // „Ice cream, so good.“ // Dada 2.0?

Was auf den ersten Blick wie zufälliges Gestammel oder eine sprachliche Fehlfunktion wirkt, ist in Wahrheit ein TikTok-Phänomen, das weltweit Millionen fasziniert, irritiert oder schlicht überfordert: NPC-Streaming.

Menschen, meist allein vor der Kamera, reagieren auf digitale Geschenke mit vorher einstudierten Bewegungs- und Sprachmustern – wie nicht-spielbare Charaktere (Non-Playable Characters) in Videospielen. Jeder „Hotdog“, jeder „Rosenstrauß“, jede virtuelle „Eistüte“ löst eine Geste aus. Wie im Fall der TikTok-Ikone Pinkydoll, deren Stream-Phrasen längst zu Memes mutiert sind:

Pinkydoll

„Yes yes yes. Ice cream, so good. Fire, mmm, fire. Balloon, balloon.“

Doch was ist das eigentlich? Trash? Automatismus? Kunst?


Digitales Kabarett Voltaire?

Es lohnt sich, diesen Trend nicht nur als Social-Media-Gag zu betrachten, sondern kunsthistorisch zu deuten. Denn NPC-Streaming hat erstaunlich viele Parallelen zur Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts – insbesondere zum Dadaismus, jener radikalen künstlerischen Gegenbewegung, die Sprache, Sinn und Identität zerlegte, um dem Irrsinn der Welt zu antworten.

In der Tradition eines Hugo Ball, der 1916 im Zürcher „Cabaret Voltaire“ Lautgedichte wie

„gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori“
deklamierte, erscheinen Pinkydolls Streams wie digitalisierte Lautkunst-Performances – nur mit eingebautem Mikrotransaktionssystem. Auch hier wird Sprache entkernt, Bedeutung aufgelöst, der Sinn durch Klang, Geste und Repetition ersetzt.

Ebenso erinnert die starre, fast roboterhafte Körperlichkeit der Performer an das Triadische Ballett von Oskar Schlemmer am Bauhaus: Der Mensch wird zur choreografierten Figur, zur geometrischen Maschine auf einer Bühne – nur ist diese Bühne heute TikTok.


Eine postdigitale Kontrollschnittstelle

Axel Weidemann beschrieb das Phänomen in der FAZ (Juli 2023) als eine Mischung aus mantrahaftem Ritual, digitaler Fernsteuerung und ästhetischer Rückwärtsgewandtheit. Er sieht in den gleichförmigen Reaktionen nicht nur die Abwesenheit von Gefühl, sondern auch eine seltsame Faszination, die sich schnell erschöpfe. Die „Performenden“ sind mehr Avatar als Mensch – lebendige Menüs, durch Spenden steuerbar, entmenschlicht und doch hyperpräsent.

Und dennoch: Der Autor fragt sich, ob das nicht eine künstlerische Reaktion auf unsere Angst vor der Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschine sein könnte – ein surrealer Spiegel des digitalen Ichs.


Zwischen Trash und Transzendenz

So absurd das Ganze scheinen mag: Es hat Struktur. Es hat Rhythmus. Es hat – wenn auch unbewusst – eine Form von Kritik. Und vielleicht ist genau das der Punkt: Kunst ist nicht immer Intention. Manchmal ist sie pure Auswirkung.


Ich bin fasziniert und irritiert zugleich. NPC-Streaming ist verstörend, künstlich, repetitiv – und doch kann ich mich dem nicht entziehen. Vielleicht, weil ich es als etwas begreife, das über das Medium hinausweist.

Für mich ist das Kunst, sonst könnte ich es gar nicht ertragen.

Die Emotionsleere, das fragmentierte Sprachspiel, der maschinenhafte Körper – all das wirkt wie ein Echo auf unsere Zeit. Vielleicht sehen wir hier keine flache Unterhaltung, sondern ein neues Kapitel performativer Medienkunst, geboren aus Algorithmen, kapitalistischer Aufmerksamkeitsökonomie und einer Welt, die längst zwischen Bildschirm und Spiegel verschwimmt.


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